Bei aller Überwachung und Beschneidung der Privatsphäre gibt es bis dato wenigstens ein Medium, dass sich der „große Bruder“ noch nicht vollständig zu eigen machen konnte: das haptische Tagebuch. Doch in Zeiten der digitalen Disruption gibt es natürlich auch Beschleunigungs-Apps für das einstmals sorgsame Handwerk der bespiegelnden Selbstreflexion.
Eingeleitet wurde die vermeintliche Verdrängung des Tagebuchs aus Papier bereits vor Jahren durch Online-Blogs – öffentlich einsehbare, oftmals anonyme oder pseudonym geführte Tagebücher, deren Autoren ihre privatesten Gedanken ins Netz stellen, wo sie jeder goutieren kann. Der Reiz des Voyeurismus war dabei ebenso präsent wie ein gewisser Exhibitionismus seitens der Autoren.
Eine neue App geht nun den vermeintlich finalen Schritt und offeriert die vollständige und automatische Aufzeichnung ganzer Biografien. Die Zielgruppe: Verhinderte und Eilige, denen dennoch der Sinn nach einem Tagebuch steht. Nichts leichter als das in Zeiten grenzenloser Beschleunigung. Doch die
automatisierte Mitschrift der eigenen Biografie an Stelle des analogen Schreibens hat natürlich ihren Preis.
Alles begann damit, dass der ehemalige Facebook-Mitarbeiter Arun Vijayvergiya mehr über seinen verstorbenen Vater herausfinden wollte. Er begann damit, die Facebook-Pinnwand des Toten zu durchstöbern, doch das Ergebnis stellte ihn nicht zufrieden, da es zu wenig hergab – der Verstorbene habe zu wenige Statusmeldungen veröffentlicht.
Diese Erfahrung soll Vijayvergiya und seinen Kollegen Nikolay Valtchanov dazu bewegt haben, die Tagebuch-App Fabric ins Leben zu rufen. Die kostenlose App soll das sehr viel leichtere Führen eines Tagebuchs ermöglichen und das Leben des Nutzers vollständig und automatisch aufzeichnen.
Paradox ist, dass ein Tagebuch vor allem der Reflexion dient. Und die benötigt nun einmal Zeit. Was Fabric den Usern anbietet, ist deshalb kein Tagebuch, sondern eine Art Aufnahmegerät. Die Beschäftigung mit den eigenen Gedanken spielt keine Rolle, sondern lediglich deren Aufzeichnung. Beschleunigung des Profanen statt der reflektierenden
Entschleunigung der gefilterten Gedanken.
In der Tat zeichnet die iPhone-App nahezu alles lückenlos auf und zeigt die Erlebnisse des Users auf einer Weltkarte an – der Alptraum eines jeden Datenschützers. Zwar kann man die GPS-Funktion der App unterbinden, ebenso wie den Zugriff auf die Fotos – allerdings leistet sie dann nicht mehr das, wozu sie gedacht ist.
Notizbuch und Tagebuch funktionieren unabhängig vom Wifi-Empfang, von GPS-Signalen und von Anbietern cloudbasierter Software. So ist die App Fabric nicht nur ein starkes Spionage-Tool, sondern auch hochgradig abhängig von ihrer Pflege und Weiterentwicklung. Ganze Leben aufzuzeichnen ist ein Mammutprojekt und braucht länger als fünf Jahre App-Existenz.
Das eigene Leben als Big Data? Da kommt immer auch eine Menge Datenmüll zustande, der das Blick auf das Wesentliche verstellt. Merke: vor der Essenz des eigenen Lebens steht die gedankliche Anstrengung. Deren wirksamste Weggefährten sind Stift und Papier.
Autor: Richard Kastner
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