Wir gehorchen dem Klingeln unserer Wecker, richten uns nach dem Takt öffentlicher Verkehrsmittel, planen zusätzliche Staureserven und halten täglich unsere Arbeitszeiten ein. Unser Leben ist minutiös durchgeplant und nicht nur das: Das Tempo nimmt von Tag zu Tag zu und wir nähern uns der Schwelle, ab der die tägliche Aufgabenfülle kaum noch zu bewältigen ist.
Die vermeintliche Lösung: die smarte Welt, das Internet der Dinge, in dem alles mit allem vernetzt ist. Technische Helferlein, denkende Küchengeräte, intelligente Autos, kürzeste Lieferzeiten und längere Ladenöffnungszeiten.
Die Grenzen des Machbaren scheinen sich immer weiter auszudehnen. Der letzte entspannte Tag? Die meisten können sich noch nicht einmal daran erinnern.
Aber ist die ewig beschleunigte Welt nicht ein großer Trugschluss? Ist es nicht bloß eine Frage der Zeit, bis wir unsere Belastungsgrenzen erreichen? In vielen Köpfen findet ein Umdenken statt. Statt Termine stetig besser zu organisieren, werden sie reduziert. Das magische Wort der Stunde: Entschleunigung.
Pausen werden bewusst genossen und sogar in den Terminplaner eingetragen, der Einkauf wird auf das Wesentlichste reduziert und manch ein Arbeitnehmer nimmt
sogar ein geringeres Gehalt in Kauf, wenn ihm dafür mehr Zeit zur Verfügung steht. Burnout und Stress sind out . Was bringt uns schließlich all das verdiente Geld, wenn uns die Zeit fehlt, um es auszugeben?
Der Wunsch nach Entschleunigung und der seit Jahren anhaltende Retro-Trend gehen Hand in Hand. Deutschland sehnt sich nach Büchern, Oldtimern, antiker Einrichtung, edlen Schreibgeräten, hochwertiger Kleidung und Slow Food. Auch die Rückbesinnung auf Kalender und Notizbücher aus Papier ist nicht zu übersehen.
Notizbücher in individuellem Stil sind in den letzten Jahren sogar zu Trendprodukten avanciert, insbesondere auch bei jungen Zielgruppen. Geschätzt werden zum einen ihre bewährten praktischen Qualitäten: Beispiels-weise sind sie immer sicher zur Hand, flexibel im Gebrauch und prädestiniert als persönliches Archiv. Zum anderen dienen sie der kreativen Kontemplation.
Auch der Kalendermarkt ist erneut im Aufschwung. Während Bildkalender nie aus der Mode gekommen sind, wächst seit Jahren auch wieder die Nachfrage z.B. nach Familienplanern, Organisationswandkalendern und Timern.
Möglicherweise steckt dahinter ein kluger Impuls: Was sich mit einem altbewährten Buchkalender nicht bewältigen lässt, ist auch nicht gut für uns. Natürlich liefern der digitale Google-Kalender und seine zahlreichen Cloud-Verwandten ungezählte Möglichkeiten.
Wir können Termine eintragen, sie von verschiedenen Orten aus bearbeiten, mehrere Kalender auf einmal führen und alle Daten auf unterschiedlichen Endgeräten synchronisieren. Aber wollen wir das überhaupt? Ist das zielführend oder führt es in eine Alltagspulverisierung.
Notieren wir unsere Aufgaben handschriftlich, werden sie greifbar und verlieren ihre Bedrohlichkeit. Was wir in der Cloud abladen, scheint hingegen ein Eigenleben zu entwickeln. Automatische Erinnerungen, regelmäßig wiederkehrende Tätigkeiten – meist hilft uns die Organisationssoftware keinesfalls bei der Bewältigung unserer Aufgaben.
Vielmehr beherrschen uns die digitalen Helfer und takten unseren Tag noch akribischer durch, als wir es jemals könnten. Das Menschliche bleibt dabei auf der Strecke und wir folgen elektronischen Signalen – ebenso wie Roboter.
Auch im 21. Jahrhundert bleiben Notizbücher und Kalender mächtige Entschleunigungstools, die uns dabei helfen, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Planbar ist unser Leben ohnehin nicht – mit der richtigen Dosis Entschleunigung leisten wir aber einen großen Beitrag zu seiner Antifragilität und können uns auf das Wesentliche konzentrieren.
Autor: Richard Kastner
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