Kaum etwas ist flüchtiger als der Gedanke: Innerhalb einiger Millisekunden schießt er durch unser Hirn, nimmt möglicherweise den ein oder anderen Umweg, nur um wenig später für immer in der Versenkung zu verschwinden.
Wir können nicht versuchen, jeden Gedanken festzuhalten und uns an ausnahmslos alles zu erinnern. Das brauchen wir auch nicht, denn nicht jeder Gedanke ist des Aufhebens wert. Für die wichtigen Gedanken aber gibt es einen erprobten Weg, indem wir ihn verschriftlichen.
In Zeiten der Digitalisierung gibt es zahlreiche Apps, die uns bei der Ordnung unserer Gedanken helfen sollen, unsere Termine verwalten und Platz für neues geistiges Gut schaffen sollen. Evernote, Wunderlist, Google Drive, Dropbox: die Liste der Cloud-Anbieter ist endlos und die sich ändernde Lese-, Arbeits- und Schreibkultur scheint unaufhaltsam.
Nichtsdestotrotz boomt der Notizbuchverkauf. Auf nahezu jeder Fotografie von einem Schreibtisch finden sich auch Notizbücher, ein Terminkalender, Werbekalender, Haftnotizen oder zumindest Schreibblöcke – als analoger Anker in der digitalen Datenflut.
Die Jugend pfeift offensichtlich auf die Volldigitalisierung und goutiert nach wie vor die Vorzüge des analogen Schreibens.
Seit vielen Jahrzehnten behauptet die Do it yourself-Kultur ihren Platz, Jahr für Jahr mit
Zuwachsraten. Letztere haben in den letzten Jahren sogar noch einmal deutlich angezogen. Zufall?
Eher nicht. Menschen wollen kreativ sein, sich ihrer selbst durch ihrer Hände Arbeit vergewissern.
Sie erobern sich Stück für Stück ihr haptisches Leben zurück. Ob Stricknadel, Füllfederhalter oder Laubsäge: Das haptische Erlebnis ist auf dem Vormarsch - und zwar stärker denn je.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Selbstgemachtes erinnert uns an unser Geschick und an unsere Einzigartigkeit. 5€-T-Shirts von der Stange? Die tragen doch sowieso alle. IKEA-Möbel? Wer möchte schon leben wie im Katalog.
Ähnlich verhält es sich mit der Schrift. Klar, eine PC-Tastatur bringt unschlagbare Vorteile mit sich. Ganze Absätze lassen sich verschieben, Korrekturen sind schnell und unsichtbar möglich, ja, selbst die Rechtschreibkorrektur wird uns abgenommen. Sobald es an unsere privaten Gedanken und Ideen geht, wünschen wir uns aber vor allem eines: Individualität.
Ein unersetzlicher Bestandteil dieser Individualität ist unsere Handschrift, nicht zuletzt wegen des großen Stellenwertes unserer Signatur. Formulare können noch so akkurat formuliert und noch so formschön ausgedruckt sein: Ohne Unterschrift sind sie ungültig und wertlos.
Doch es gibt noch weitere gute Gründe, mit der Hand zu schreiben.
Schließlich begleitet unsere Handschrift uns lebenslang und kristallisiert sich meist schon vor dem Besuch der Grundschule heraus – zu einer Zeit, in der wir ohnehin noch nichts rechtsgültig unterschreiben dürfen.
Sie lässt uns Gedanken zu Papier bringen, erlaubt uns sie zu externalisieren. Eine große Erleichterung, denn im Gegensatz zu unserer Vorstellungskraft ist die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns begrenzt.
Zwar läuft es ständig auf Hochtouren, entwickelt Ideen, verwirft sie, hängt Tagträumen hinterher oder stellt sich Fragen, die beantwortet werden wollen. Genauso schnell wie unser Gehirn denkt, vergisst es aber auch.
Analoges Schreiben scheint also trotz digitaler Helfer unverzichtbar zu bleiben. Kein Wunder, denn unsere Handschrift ist so etwas wie ein Lebenswerk, das wir nur ungern aufgeben. Einerseits, um unseren Gedanken Ausdruck zu verleihen: Statt sie in eine seelenlose (und manipulierbare) Cloud zu verschieben, erklären wir sie lieber endgültig zu unserem Eigentum, indem wir sie mit unserer Handschrift veredeln.
Andererseits verlieren wir auf diese Weise nicht die Kontrolle. So widerstrebt uns der Gedanke, Idee für Idee in digitale Hände zu legen. Stattdessen besinnen wir uns lieber auf unser handwerkliches Geschick - und modellieren unsere Gedanken eigenhändig.
Autor: Richard Kastner
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